2/13/2005

Unendlich ferner Punkt (MUGEN-EN-TEN)

Unendlich ferner Punkt (MUGEN-EN-TEN)

Das ist der Punkt, an dem zwei Parallele sich auf der perspektivischen Linie vereinen und verschwinden.

Traditionelle, japanische Gemälde wie auf Bildrollen oder in Ukiyoes kennen keine Perspektive, keinen Bildmittelpunkt und keine räumliche Tiefe.  In der Tat muss es ein sehendes Auge, einen Mittelpunkt des Bildes geben, aus dem Sehstrahlen gehen, damit eine perspektivische Wiedergabe der Realität entsteht,.  Man gibt damit eine Richtung, in die man gehen kann, der Ausdruck „eine Perspektive haben“  erklärt alles.  Für eine Perspektive muss man den Mittelpunkt haben, ab dem der Weg zum Fluchtpunkt beginnt. Und der Mittelpunkt kann nichts anderes als das einzelne Ich sein.

Mir scheint, dass die japanische Sicht in eine ganz andere Richtung geht.  Das beste Beispiel sind die japanischen Shungas,  jene erotische Ukiyoe-Bilder, in denen Genitalien überdimensional dargestellt werden.  Hier gibt es keinerlei Versuch, eine naturgetreue Wiedergabe der Welt zu machen, die Künstler geben ihre eigene gefühlte Welt wieder, wie sie sie empfinden.  Es ist ihnen völlig egal, wenn das Dargestellte deformiert, überporpotional oder verstümmelt ausieht oder wenn sie keine Allgemeingültigkeit findet.

Und ich denke, in diesem Unterschied der Sichtweise  und der Darstellung liegt die Essenz des grundlegenden Unterschiedes zwischen Japan und Europa.  Mir kommt es vor, solang man in Japan aufwächst und Japanisch spricht, entwickelt man keine perspektivische Denkweise und somit auch keine „Perspektive“.  Und dieses Gefühlt hat sich seit dem 11.3.2011 nur noch verstärkt.

In der langen Geschichte der (geistigen) Wissenschaft Europas, vor allem in ihrem permanenten Versuch, durch die Sprache die Welt wiederzugeben, sehe ich die Suche nach der Allgemeingültigkeit, nach der absoluten „Wahrheit“, der jeder zustimmen und erkennen kann, während alle Individuen anders sind als die anderen.  Weil jeder verschieden und einzigartig ist und verschiedene Meinungen besitzt, will man die allgemeingültige Wahrheit finden, von der jeder überzeugt werden kann.  Diese Wahrheit, die allen gleich und logisch begreifbar sein soll, will  man doch finden, beschreiben und verfolgen.  Dafür musste man automatisch eine widerspruchlose Logik und die natur-getreue Wiedergabe der Realität perfektionieren.  Hier setzt man unweigerlich die Existenz eines absoluten, alles sehendes Auge, was früher natürlich das Gottes Auge war.  Der europäische Weg war vor allem der Weg zum Gottes Auge.

In Japan dagegen, das schon vor über hundert Jahren die westliche Zivilisation einführte mit ihren wissenschaftlichen Methoden, scheint dieser perspektivische Zugang noch lange nicht angekommen zu sein.  Japaner entwickeln ja sowieso ein ganz anderes Ich-Bewusstsein als in Westen, wir besitzen meistens keinen starken Umriss von einzelnen Personen, die sich von anderen eindeutig unterscheidet und hervorhebt, entsprechend gibt es kein ausgeprägtes eigenes Auge, aus dem man eine Perspektive baut, und das die allgemeingültige Wahrheit suchen würde.  Eher im Gegenteil: Dadurch dass Japaner schon von Anfang an in einer Gemeinschaft hineingeboren werden mit der klaren Zugehörigkeit, wird das eigene „sehende“ Auge zunächst nicht bewusst, es entwickelt sich zunächst als das schon von Anfang an „integriertes“ und somit in der Gemeinschaft verschwommene Ich, das Ich wird zu etwas, das vor allem von der Gemeinschaft gesehen und erkannt wird, als das aktiv handelnde Ich.  Nur im Lauf der Entwicklung empfindet man doch eine Art Kluft zwischen dem gesehenen Ich und der Gemeinschaft, und das gesehene Ich empfindet sich als „fremd“ in der Umgebung, und so fängt dieses Ich, eine Zelle mit einer dünnen Wand zur Gesellschaftsmasse, fängt an, seine Besonderheit als etwas „Störendes“ zu betrachten, weswegen es überlegt, was das ist.  Somit ist die Sicht nicht vom Mittelpunkt nach Außen, sondern von der mittellosen Außen ins Innere, zu sich.  Die „Sicht“ ist deshalb in einer umgekehrten Richtung.

Über 20 Jahre lebe ich nun unter den Deutschen.  In mir genießen Japan und Deutschland mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Denkweisen, Werten und Lebensarten eine konfliktlose Koexistenz, aber sobald ich mich nach Außen wende, sind diese zwei Länder so weit von einander entfernt, dass sie sich niemals zu treffen scheinen, zumindest hat mich dieses Gefühl durch die Jahre immer begleitet. Anders ausgedrückt war die Suche nach dem Punkt, in dem zwei sich treffen sollten, mein Bestreben selbst seit 20 Jahren.

Der 11.3.2011 hat mein Leben in vieler Hinsicht verändert (und ich glaube, nicht die einzige zu sein, die es so empfindet), und mein Gefühl für diese Unnahbarkeit hat seit dem Tag etwas Dringendes, Akutes: Es überkommt mir ein Gefühl, als würde mir meine Heimat,  wo meine Familie noch wohnt und meine Kindheitserinnerung ruhen, wo ich zu lieben, zu träumen und zu leben lernte, mit Gewalt ausgerissen.  Ich musste zum ersten Mal mit Schmerzen erleben,  dass die Gefühle um die Heimat viel tiefer liegen als man normalerweise annimmt, vielleicht am Bauchnabel, der einst von der Mutter getrennt wurde, etwas, was über alle Vernunft und logische Auseinandersetzung hinausgeht, als wäre ich selber dabei in zwei gespalten.  Während meine Augen, die seit 20 Jahren hier in Deutschland gelernt haben, nach der europäischen Methode kritisch zu sehen und vieles in Frage zu stellen, die aktuelle Lage meiner Heimat scharf kritisieren und gleichzeitig die Gründe zu analysieren und zu verstehen versuchen, will mein japanisches Ich die Japaner in Schutz nehmen und den bevorstehenden Abgang der Heimat irgendwie noch retten, wenn es überhaupt möglich ist.  Eigentlich bin ich ja so verzweifelt und ohnmächtig, dass ich gar nicht weiß, womit ich überhaupt anfangen soll.

Ich bin ja wirklich nur eine von 120 Millionen Japanern, deshalb will ich gar nicht anmaßend behaupten , dass ich mich in Sachen „Japan“ gut auskennen würde. Aber es tut mir oft so weh, wenn ich hier in Deutschland mitbekomme, wie manche besserwisserisch das „Phänomen“ Japans oder die angebliche japanische Mentalität und ihr eigenartiges Gesellschaftssystem analysieren und erklären oder herabsetzend den aktuellen Zustand Japans kritisieren, andererseits überkommt mir große Wut, wenn ich tagtäglich zusehen muss, wie eine Handvoll von Menschen die eigene Bevölkerung derart schamlos für dumm verkaufen, indem sie die große Gefahr und  den katastrophalen Zustand beschwichtigen und die Opfer in Stich lassen, damit sie mit allen Mitteln an der etablierten Machtstruktur weiterhin festhalten können.  Ich frage mich wie viele andere, was man machen könnte, um dieses korrupte System von Technokraten-Justiz-Wissenschaft-Medien durchzubrechen oder um die Bürger, die die Stimme erheben, noch besser zu unterstützen.

So machtlos und aussichtslos wie ich auch bin, überlegte ich die ganze Zeit, wie ich über diese Verzweiflung hinaus irgendeine Hoffnung tragen könnte.

Ich weiß es zwar immer noch nicht, wie,  aber ich möchte hier meine Gedanken aufschreiben, manche Beiträge, die mir aufschlussreich, informativ, überlegenswert erscheinen oder manche Leute mit ihrer hervorragenden Arbeiten leisten, vorstellen, und dadurch versuchen, eine mögliche Perspektive finden, und dieser Blog soll die Plattform dafür werden.  Es gibt bereits jede Menge Menschen, die etwas vergleichbares anbieten, es gibt sogar viel, zum Glück, die viel mehr tun, und mir ist bewusst, dass es möglicherweise nur zu meiner Selbstbefriedigung dienen würde.  Aber wenigstens möchte ich nicht einfach in Ohnmacht tatenlos alles zusehen.  Ich will nicht, dass ich mich umsonst bemüht habe, zu „denken“ zu lernen.

In diesem Blog möchte ich also den „unendlich fernen Punkt“ zwischen meinem Japan und meinem Deutschland finden mit mir als Augpunkt, denn ich bin diejenige, die den Weg suche.  Das deutsche Wort Flucht im „Fluchtpunkt“ verrät dabei, dass ich doch möglicherweise aus Angst nur noch „fliehe“, da ich angesicht der großen Krise,  die ich sehe, nicht ertragen kann.  Der Fluchtpunkt  ist sowieso eine Illusion.  Und das japanische Wort  für den unendlich fernen Punkt heißt  „Mugen-En-Ten“, wobei das Wort Mugen mit anderen Schriftzeichen auch für Träume und Illusionen steht.  Auch wenn es eine Illusion ist, kann ich einfach nicht umhin, diesen Punkt zu suchen, an dem sich Japan und Deutschland zusammentreffen, denn in mir sind sie beide zusammen lebendig.  Was ich hier suche, ist kein oberflächlicher „Austausch zwischen Japan und Deutschland“ oder angebliche „Gemeinsamkeiten“.  Ich will hier versuchen, für mich eine Perspektive zu finden, den Weg zum Licht und zur Hoffnung, zum Fluchtpunkt im Unendlichen.

Hiermit möchte ich mich bei meiner Schwester Aya bedanken für ihren technischen Beistand, ohne ihre Hilfe wäre ich nicht imstande, mit dem Blog anzufangen.  Da wir uns so wenig sehen können, hoffe ich, dass wir uns hier „treffen“, um unsere Gedanken gemeinsam erweitern und vertiefen zu können.