Ansprache von Herrn Thomas Dersee bei der Kundgebung der Demo am 9.3.2013 in Berlin
Herr Thomas Dersee ist der Herausgeber und der Leiter des Informationsblattes „Strahlentelex“ heraus, in dem er über aktuelle Gefahren und Problematik um Strahlen, AKWs, Folgen von atomaren Unfällen gibt. Er war letztes Jahr auch in Fukushima, um u.a. die Bürgerintiative, die in verschiedenen Stellen „Messstationen“ aufbauen, zu unterstützen. Er hat darüber ausführlich in der Dezemberausgabe (2012) von Strahlentelex berichtet.
Bei der Kundgebung der Demo in Berlin am 9.3.2013 hielt Herr Dersee eine Ansprache und sprach über die aktuelle Situation und Probleme in Japan, aber er hat nicht vergessen, uns allen auch Mut zu machen. Ich hatte die Ehre, seine Rede hier zu dolmetschen und hiermit möchte ich seine Rede auch auf Deutsch veröffentlichen:
Thomas Dersee Berlin, Brandenburger Tor, 9. März 2013
www.strahlentelex.de
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!
Wer heute, 2 Jahre nach der Reaktorenkatastrophe, die japanische Präfektur Fukushima besucht, findet am Bahnhof von Fukushima-Stadt ein öffentliches, amtliches Strahlenmeßgerät vor. Ähnlich wie hier in Berlin die Parkuhren, ist es mit Solarzellen ausgestattet und zeigt tagsüber auf einem Display gut sichtbar die aktuelle Strahlenbelastung an.
Wer sein eigenes Meßgerät mitgebracht hat, wundert sich allerdings, daß das amtliche Gerät sehr viel niedrigere Werte anzeigt als das eigene. Und wer dann fragt, wieso das so ist, erhält die Auskunft, das sei nicht ungewöhnlich, sondern generell so. Japanische Bürgerinitiativen und örtliche Gemeindevertretungen haben das systematisch überprüft.
Zuerst habe eine amerikanische Firma probeweise Geräte aufgestellt, die höhere Strahlenwerte anzeigten. Nach Einwendungen des japanischen Umweltministeriums, die Werte seien ja so hoch, ob man das nicht ändern könne, habe die Firma geantwortet, nein, das ginge nicht, die Geräte seien ja zum Messen da. Darauf erhielt stattdessen eine japanische Firma den Auftrag, solche Geräte aufzustellen. Sie zeigte sich den Wünschen des Ministeriums gegenüber zugänglicher.
Mehr als 3.000 solcher Meßgeräte sind über die gesamte Präfektur Fukushima und weitere auch in angrenzenden Gegenden von den Behörden aufgestellt worden. Sie stellen die amtlichen Strahlen-Monitoringpunkte dar und zeigen im Durchschnitt nur ein bis zwei Drittel der wahren Strahlenbelastung an. Das ist in der japanischen Bevölkerung durchaus bekannt. Weshalb also machen die Behörden das?
Diese Meßergebnisse werden an internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation gegeben. Daraufhin hat sie vorige Woche verkündet, daß „für die allgemeine Bevölkerung innerhalb und außerhalb von Japan die prognostizierten Risiken gering und keine beobachtbaren Anstiege der Krebsraten zu erwarten“ seien. Nur in den höher belasteten Gebieten werde es geringfügige Erhöhungen geben.
Aber natürlich sind die Leute von der Weltgesundheitsorganisation nicht dumm. Sie wissen auch, daß die Strahlenmessungen nicht stimmen. Weshalb spielen sie das falsche Spiel mit?
Vielleicht soll das auch in Japan beruhigend wirken. Als Adressaten solcher Nachrichten bleiben aber eigentlich nur wir übrig, die Menschen im Ausland. Uns soll eingeredet werden, so eine Atomkatastrophe sei nicht so schlimm, so eilig bräuchten wir unsere Atomkraftwerke nicht abzuschalten. Wenn hier in Deutschland oder in Frankreich ein solches Atomunglück geschehe, so sei das durchaus verkraftbar.
Die Leute in Japan wissen es besser. Mehr als 160.000 Menschen, überwiegend Strahlenflüchtlinge, leben heute, 2 Jahre nach der Katastrophe, noch immer in Notunterkünften. Von rund 80.000 im vorigen Jahr untersuchten Kindern und Jugendlichen hatten mehr als 40 Prozent Veränderungen der Schilddrüse. Noch nicht einmal die Hälfte der Kinder ist überhaupt untersucht worden.
Bei 151 Kindern wurden bisher weitergehende Untersuchungen durchgeführt. Bei ihnen fanden sich 10 Schilddrüsenkrebs- und Krebsverdachtfälle. Normalerweise haben nur 1 bis 2 von 1 Million Kinder Schilddrüsenkrebs.
Die überwiegende Zahl der Kinder soll erst in 2 Jahren wieder untersucht werden. Denn, wie der Studienleiter in Fukushima erklärte, müßten die nötigen Spezialisten für Kinderschilddrüsen erst noch ausgebildet werden und stünden dann in 2 Jahren zur Verfügung.
Offizielle Politik ist, die vor der Strahlung geflüchteten Menschen zur Rückkehr in die alte Heimat zu bewegen. – Sie sind dann Versuchskaninchen.
Viel Kraft und Geld wird für sogenannte Dekontaminierungen der unmittelbaren Lebensumgebung aufgewandt. Das ist jedoch eine Sisyphos-Arbeit. Denn aus den umliegenden Bergen und Wäldern fällt immer wieder neue Radioaktivität auf die Siedlungen herab. Und wohin mit den radioaktiven Abfällen? Das Ergebnis der Dekontaminierungsarbeiten ist lediglich eine Umverteilung der Radioaktivität, nicht ihre Beseitigung.
Der Glaube, ein hochtechnisiertes Land wie Japan könne die Probleme in den Griff bekommen und bewältigen, ist nichts weiter als ein frommer Wunsch. Die erste behördliche Maßnahme war, die Dosisgrenzwerte hochzusetzen, und zu behaupten, diese seien immer noch gesundheitlich zuträglich.
Mehr als 100 Bürgerinitiativen in Japan haben inzwischen eigene Meßgeräte angeschafft. Sie messen die radioaktive Verseuchung von Lebensmitteln, um die Aufnahme von Radionukliden über die Nahrung möglichst gering zu halten. Sie kontrollieren Dekontaminierungsversuche, führen Messungen der Ortsdosisleistungen und Ganzkörpermessungen durch. Und sie organisieren zeitweise Verschickungen der Kinder aus den höher verstrahlten Gebieten in weniger belastete Gegenden im tiefen Süden und hohen Norden Japans.
Allein diese Eigeninitiative der Menschen in Japan macht mir Hoffnung und stimmt mich trotz allem zuversichtlich. Sie verdienen jede Unterstützung. Wir können mit Spenden helfen – und in Deutschland zeigen, daß es auch ohne Atomkraft geht. Vielen Dank.