2/13/2012

Wohin mit der Wut?

Wohin mit der Wut? 

Gefühls- und Gedankennotiz der ersten Woche nach der Katastrophe


Nach dem 11.03.2011 lebte ich eine Zeitlang wie gelähmt, konnte nichts machen, konnte weder schlafen noch essen, weinte und schließlich, um nicht verrückt zu werden, habe ich eine Art Tagebuch geführt.  Jetzt fast nach einem Jahr merke ich, dass diese Gedanken und Gefühle, die ich hier niedergeschrieben  habe,  noch genauso sind, auch wenn dieses Gelähmt-sein nicht mehr so stark ist.  Da ich alles, was ich um diese Zeit fühlte und dachte, ja nicht vergessen möchte, möchte ich meine sehr persönlichen Notizen hier allen zugänglich machen:

Freitag 11.03.2011
Es war ca. 6.30Uhr morgens, als ich mich kurz hingelegt habe, nachdem ich wegen eines Übersetzungsauftrags die Nacht durchgearbeitet hatte.  Nach so viel Stunden Arbeit am PC war es mir nicht gelungen, richtig zu schlafen.  Ein Paar Stunden später war ich wieder wach.  Da rief eine gute Freundin an und fragte, ob ich von der Nachricht gehört habe.  Ich besitze keinen Fernseher, so schaute ich gleich im Internet die Nachrichten.  Gleichzeitig entdeckte ich eine Email meiner Schwester aus Tokio, in der sie schrieb:  Ein großes Erdbeben.  Aber es gehe ihr gut, der Mutter auch, sie sei allerdings noch nicht zu Hause, sie müsse für heute wohl bei Freunden übernachten.  Die Telefonleitung war zusammengebrochen.  Aber via Internet kontte ich meine Schwester anrufen.  Sie hatte immer große Angst, wenn es Erdbeben gab, obwohl es für uns Japaner zur Tagesordnung gehört.  Es ist ja in der Tat unheimlich, wenn der Boden, auf dem man steht, zu wackeln und zu wanken anfängt.  Aus ihrer Stimme konnte ich heraushören, dass sie noch unter Schock stand, nachdem sie allein zu Hause den Schrecken erlebt hatte, sie war unter den Esstisch gekrochen, als alles, was nur herunterfallen konnte, herabfiel in der Wohnung.
In den Nachrichten kommen immer mehr Meldungen über das Ausmaß der Tsunami-Katastrophe, eine Wucht der Naturgewalt, die tobte, alles mitriss und zerstörte.  Und als ob das nicht genug mit diesen Opfern war, erreicht mich die Nachricht:   Die Kühlsysteme mehrerer AKWs in Fukushima versagen. Mein erster Gedanke: der Alptraum ist wahr geworden.



Samstag, den 12.03.2011 
Schreckensbilder ohne Ende, ich kann bald diese Bilder nicht mehr ansehen und ärgere mich, dass man nichts Genaues erfährt über die  „problematischen“ AKWs.  Wie kann es sein, dass ich hier in Deutschland im Internet, so scheint es mir, viel mehr erfahre als in japanischen Medien?  In japanischen Zeitungen gibt es natürlich sehr viele Berichte über die Erdbeben- und Tsunamiopfer sowie die Verwüstung dieser Naturgewalt.  Aber nichts genaues ist zu lesen über die AKWs, alles verschleiert, zurückhaltend und vorsichtig ausgedrückt, und vor allem nichts darüber, was tatsächlich gerade in den AKWS im Gang ist und was noch kommen könnte.  Ich denke gleich an die manipulierten Meldungen des Militärs während des zweiten Weltkriegs.  Wenn ich Edano vom Blatt vorlesen höre, bekomme ich Wut und will ihn anschreien: Kannst du bitte ordentlich Japanisch sprechen?  Nein, das kann er nicht, und nicht nur er.
Ich lebe im Ausland über zwanzig Jahre, spreche täglich fast ausschließlich Deutsch, vermisse schon seit langem nicht mehr sonderlich meine Heimat.   Aber wenn so eine Katastrophe eintritt, fängt auch der Boden, auf dem ich hier stehe, an zu wackeln,.  Es ist offensichtlich wichtig für meine innere Stabilität, glauben zu können, dass es meiner Familie, für mich die Verkörperung der Heimat, weiterhin gut geht, obwohl ich als Japanerin weiß, alles ist vergänglich.  Die Unruhe wächst, die Angst vor der Super-GAU packt mich und läßt mich nicht los.
Was für eine distanzierte, fast gleichgültige Haltung hatte ich doch bisher, stelle ich jetzt fest, jedes Mal wenn Katastrophenmeldungen aus Phuket, Santiago de Chile, Haiti oder Christchurch kamen.  Theoretisch wusste ich ja, dass es immer irgendwo Kriege, Epidemien und Naturkatastrophen gibt, aber sie waren für mich immer das Feuer jenseits des Ufers.  Ich kann es deshalb niemandem übelnehmen, wenn die Leute um mich herum trotz den Schreckensnachrichten aus meiner Heimat fröhlich weiter konsumieren, Unterhaltungen suchen, in Urlaub fahren oder Partys feiern, das habe ich ja schließlich auch selber getan bis letzte Woche.

Sonntag, den 13.03.2011
Nachbeben ohne Ende, die Angst sitze tief in Knochen sagt Aya, meine Schwester, und klagt, jetzt sei das unrettbar marode System oder das Phänomen Japans am deutlichsten zu beobachten, und sie meint nicht nur die erbärmlichen Politiker oder das schamlose Atomlobby, und auch nicht nur die Medien, die von der wirklichen Verantwortung des Journalismus nicht zu wissen scheinen, sondern DAS Phänomen Japan und seiner Gesellschaft, seiner Mentalität, Denkweise, typische Charakterzüge oder bestimmte Verhaltensmuster.  Dieses System hat ja die ganze moderne Entwicklung meiner Heimat mitverursacht, schließlich waren diese korrupten oder untätigen Politiker auch vom Volk „demokratisch“ gewählt worden.  Meine Mutter und meine Schwester sind beide seit langem aktiv in einer Bürgerbewegung in Tokio, die ständig politische und gesellschaftliche Probleme Japans thematisiert und kritisiert, und gehören somit zur Minderheit Japans.  Protestieren oder kritisieren, gar eigene Meinungen offen äußern,  ist den meisten Japanern fremd, wie auch Probleme zu erkennen, Geschehen kritisch zu beobachten, sich damit gründlich auseinanderzusetzen, dazu eigene, eigenständige Meinungen zu bilden, all was im Westen als selbstverständlich für einen gebildeten Menschen gilt, kann man in Japan lang suchen.  Die europäische Zivilisation ist längst angekommen, aber nicht die Bildung, die Denk- und Urteilsfähigkeit förderen soll, nachdem wir das Land zum ersten mal seit der langen Isolationspolitik von fast dreihundert Jahren nach Außen öffneten, das war im späten 19. Jahrhundert.  Man sagt uns Japanern nicht immer unrecht nach, wir seien gut beim Nachahmen und würden fleißig wie ein Bienenvolk arbeiten, das ebenfalls keine Individualität der einzelnen kenne.   Ich hüte mich normalerweise davor, kollektiv von „Japanern“ oder von „Deutschen“ zu reden und so viele Menschen gleich zu verallgemeinern, aber in so einem extremen Notzustand glaube ich, dass man von der typischen Eigenschaft einer Kulturgemeinschaft sprechen kann.  Dabei ist es mir bewusst, dass ich mit mir selbst keine Ausnahme machen darf.
Jeder, der mal in Japan war, weiß die perfekte Serviceleistung, Höflichkeit und Freundlichkeit der Japaner zu schätzen.  In der Tat ist es schön, als Kunde und Gast derart respektvoll und bedacht bedient zu werden, das gibt es in der Tat nicht hier in Deutschland, aber ich sagte immer, das sei die Kehrseite dessen, was ich für sehr problematisch halte.  Die höchste Höflichkeitsstufe unserer Sprache ist mehr oder weniger dafür da, um die Respektsperson und die Autorität wie eine Art höhere Gewalt darzustellen, der man nicht widerspricht und die man nicht in Frage stellt, denn Erdbeben oder Tsunami, Taifun oder Flut, dagegen kann man nichts anderes machen als sie einfach hinzunehmen.  Genauso ist es, wenn jemand vom höheren Rang, sei es ein Kunde, Politiker oder Behörde, etwas sagt,  ist es durchaus ähnlich: man widerspricht nicht.  Die Wünsche und Erwartungen der Vorgesetzten, vielleicht sogar das, was man nur vermutet, es sei zu erwarten, müssen erfüllt werden, man wird traniert in dem Klima, diese Empfindungen zu sensibilisieren, um zu spüren, was am besten sei, um dem Gegenüber einen Gefallen zu tun, als müßte man unverzogene, anspruchsvoll quengelnde Kinder schon im voraus, bevor sie anfangen zu lamentieren,  beschwichtigen und bei Laune halten.  Japan ist ein Land, wo auch Erwachsene wie kleine Kinder behandelt und bemuttert werden.  Es ist für Kinder sehr bequem, wenn die Mutter alles im voraus denkt und tut, alle komplexen Probleme abnimmt, so können die Kinder sorglos und unbekümmert weiterspielen, ohne dass sie je lernen, selber für sich zu denken,  selber für die eigenen Taten und Äußerungen Verantwortung zu tragen.  Sie bekommen allerlei Spielzeuge, die sie animieren und unterhalten sollen, damit sie sich ja nicht langweilen und zu klagen anfangen.  Sie bekommen auch zum Teil schwierige Aufgaben,  das sind aber wie das Quiz in Talkshows, das einen ehrgeizig zu lösen animiert, da hohe Belohnungen versprochen sind, sei es ein Abschluss in einer Elitenuni oder eine Karrierre in einer renommierten Firma.  Es soll ein „gesichertes“ Leben bescheren.  Um solche Belohnung zu bekommen, arbeiten die Kinder zum Teil sehr diszipliniert und hart, während die Mutter sie behütet und ihnen alle anderen Sorgen abnimmt. Die japanischen Kinder sehen nicht unbedingt wie schwierige, anspruchsvolle, verwöhnte Kinder aus, da sie in dieser Gesellsachaft lernen, keine unpassenden, anmaßenden Wünsche zu bilden.  Ein von sich aus wollendes, Ansprüche stellendes Ego entwickelt sich nicht.   Die Freundlichkeit und die Zuvorkommenheit der Japaner sind so ausgelegt, nicht etwa tatsächlich die gewollten und geäußerten Wünsche zu erfüllen, sondern lediglich im voraus aus der Sicht der sorgenden „Mutter“ annehmbare und zumutbare Erwartungen einseitig zu erfüllen.   Die Kinder wissen auch, dass sie die Mutter nicht mit unangebrachten Sonderwünschen belästigen dürfen, sie leben passiv im Glauben, dass die Mutter wohl gut für sie sorgen wird, und nehmen alles dankbar an, was sie ihnen gibt. Sie müssen und sollten keine eigenständigen Willen haben, nicht mal selber die Hände ausstrecken, um etwas zu erreichen.  In Japan geht sogar die Taxitür von selbst auf, alle Türen der öffentlichen und größeren Gebäude gehen automatiosch auf und zu, in vornehmen Ryokan, Herbergen im japanischen Stil, muss man, d.h. kann nicht mal selber Essen nach dem eigenen Wunsch und Geschmack bestellen, alles wird von Gastgebern sorgfältig und fürsorglich organisiert und angeboten, dass zu jedem Geschmack etwas da ist in Hülle und Fülle, heiß dampfende Handtücher werden in jedem Cafe und Restaurant gereicht, damit der Kunde selber nicht die Hände waschen gehen muss, die hightech ausgestatteten Toiletten bieten alle möglichen Service an, so dass man das Gefühl bekommt, hier muss man sich nicht mal selbst den Hintern abputzen.  Und die ewig Kinder bleibenden Erwachsene können keinen verantwortungsvollen, überlegenen, zuverlässigen und nach dem Rechten schauenden Vater hervorbringen.

Mo. 14.03.2011
In unserer Sprache fehlt die Möglichkeit, etwas unabhängig und neutral zu äußern.  So ein neutraler, schlichter Satz wie „da ist ein Apfel“ oder „es regnet“ existiert streng genommen nicht, denn der Sprecher bei der Wort- und Höflichkeitsauswahl automatisch mitmanifestieren muss,  in was für ein Verhältnis zum Gesprächspartner er steht.  Es gibt keine Aussage, was komplett frei von menschlichen Konstellationen wäre, die eigene Identität als Mitglied einer Gruppe mit Rang und Ordnung, die Zugehörigkeit oder die Rolle der Gesellschaft bestimmt die Sprache, die man mit dem Gegenüber spricht. Wenn man in dieser Sprache aufwächst, entwickelt man ein völlig anderes Ego und Selbstbewusstsein als in Europa, wo das Subjekt immer klar in jedem Satz steht.  Wenn wir etwas beobachten und diese Beobachtungen beschreiben sollen, dann sagen wir etwa so, als wäre dieser Beobabhter nicht da, etwas geschieht wie eben ein Naturphänomen oder ein festbestehendes Gesetz, egal ob jemand es beobachtet oder nicht.  Wir sagen ja nie so etwas wie:  Ich sehe einen Berg, sondern: Ein Berg zeigt sich, wird sichtbar.  Statt zu sagen, ich verstehe dieses oder jenes, sondern: etwas wird gesondert (und verdeutlicht, also begreifbar).  Wir haben zahlreiche intransitive Verben, also sehr viel Geschehen- und Zustandsbeschreibungen ohne aktive „Täter“.  Die Tür geht auf, das Feuer geht aus, der Mond zeigt sich, Kirschblüten gehen auf.  Für Zustandsbeschreibungen sind intransitive Verben wunderschön;  ohne störendes, egozentrisches Subjekt kann Japanisch wunderbar schlicht und poetisch werden wie in Haikus.  Mit dieser Sprache aufgewachsen kann man kein starkes Ich-Bewusstsein entwickeln, das nur einzigartig  „ich“ und kein anderer wäre.  Das Bewusstsein von einem denkenden, fühlenden und sich aktiv an Beobachtungen, Geschehen und Vorgängen beteiligenden Ich fehlt.  Die Kontur des eigenen Egos sollte möglichst unklar, verschwommen sein, so unauffällig wie möglich, so funktioniert das Zusammensein in der Gruppe einfacher.  Es „funktioniert“ viel besser, wenn es niemanden gibt, der ich, ich, ich schreiend quengelt, sich rechthaberisch äußert oder etwas Unmögliches beansprucht.  Jeder ist auf das harmonische Miteinander bedacht, rücksichtsvoll und höflich.  Aber die Kehrseite ist, dass die meisten Japaner trotz des hohen Erziehungsstandards nicht lernen, nicht gelernt haben, selbständig und für sich zu denken.  Die wenigen, die doch denken, eigene Meinungen haben und sich der Gruppe deshalb nicht anpassen können, werden gemobbt, ignoriert, für „exzentrisch“ gehalten und abgegrenzt.  Viele Europäer, die mit Japanern geschäftlich zu tun haben, klagen, dass Japaner extrem lange  brauchen, bis sie eine Entscheidung treffen,  da sie innerhalb der Gruppe einen Konsens finden müssen.  Niemand äußert sich als Individuum eigene Meinungen, es gibt nicht einen Entscheidungsträger, sondern die Entscheidung muss  sich in der Gemeinschaft herauskristallisieren.  In der langen Schul- und Hochschulbildung lernen die Kinder zwar diszipliniert eine Menge Informationen auswendig und blind, aber das führt nicht dazu, dass sie lernen zu denken, aus der Fülle von Informationen die Wichtigsten zu unterscheiden, oder selber danach zu suchen.
Wie kommt es, dass diese an sich hochgebildeten Menschen, die alle möglichen komplexen technischen Fähigkeiten besitzen, schwierige Programme und Maschinen bedienen oder technische Lösungen erfinden, im Angesichts des immer wahrscheinlicher werdenden Atomdesasters plötzlich von der Gefahr der AKWs und von radioaktiven Strahlen kaum Ahnung haben, nicht mal das Vorstellungsvermögen, und den verharmlosenden Informationen der Regierung und von Tepco  Glauben schenken?  Wie ist es möglich, dass sie tagtäglich so viele Fernsehnachrichten  und  Informationen durchs Internet bekommen und die Qualität oder die Glaubwürdigkeit der Meldungen nicht in Frage stellen, nicht die wichtigsten von unwichtigen oder unseriösen unterscheiden können,  nicht den eigenen Verstand mobilisieren, um den Zustand und die eigene Lage zu analysieren?  Dabei gibt es doch durchaus Leute in Japan, die schon längst alarmiert waren und jetzt verstärkt die Stimme erheben und die Fakten nennen.  Aber sie werden auch weiterhin von den Medien ignoriert oder nicht ernst genommen, ihre Stimme kommt nicht an die Bevölkerung, und die Masse verhält sich weiterhin wie kleine Kinder, die, ohne selbst zu denken, im naiven Vertrauen leben, Mama würde wohl das Richtige und das Notwendige tun, oder sie stellen sich taub und blind, damit sie nicht „unnötig“ aus der Fassung aus der Bahn geworfen werden müssen.
Ich werde dabei maßlos wütend, ich weiß nur nicht, wohin mit meiner Wut, wenn ich hier aus der Entfernung zusehen muss, ohne etwas dagegen machen zu können, dass das Schicksal meiner Familie und Heimat in den Händen dieser schamlosen Ignoranten und untätigen Politikern immer mehr in den Ruin getrieben wird,  Japan steht am Abgrund, und das Ohnmachtsgefühl überwältigt mich, ein Menschenleben wie winziger Sandkorn, Naturkatastrophen sind tragisch und schlimm genug, aber die von Menschen gemachte Katastrophe?  Das ist empöfend.  Wie ist es möglich, dass sie nicht nur so viele AKWs auf einer erdbebenreichen Insel gebaut und als sicher verkauft haben, und jetzt in diesem alarmierenden Notfall auch noch die offensichtlichen Gefahren des Desasters derart verharmlosen und die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vernachlässigen?

Di. 15.03.2011
Bevor ich mich heute Nacht ins Bett gelegt habe, hatte ich Aya und ihren Freund, der ein alter Freund von mir ist, gebeten, angefleht: Bitte bitte bitte ins Flugzeug steigen und zu mir kommen.  Viele Freunde haben mir bereits Hilfe und Unterstützungen angeboten.  Ich wusste aber, dass es nicht so einfach sein wird.  Heute ging das Gespräch mit meiner Familie nur noch darum.
Meine Mutter, die als Kind den zweiten Weltkrieg erlebte und daher eine entschiedene Friedensaktivistin ist, hatte uns ja schon immer gesagt: Auch wenn dieses Land so hoffnungslos verdorben, nicht zu retten und erbärmlich ist, ist das hier meine Welt, in der ich hineingeboren bin, ich verstehe nur Japanisch, kenne nur diese Kultur und Geschichte,  wo sollte ich hingehen?  Sie hat mir schon immer Mut gemacht und gefördert, dass ich in der Fremde meine Lebenswege suche.  Sie sagte mir, das sei richtig, dass ich von dieser engen, kleinen Insel herauskomme und weit weg fliege.  Sie musste es als Kind zwar selber nicht erleben,  aber sie hatte die Leiden von vielen Kindern und Erwachsenen mitbekommen, die damals von Tokio unter den massiven, täglichen Luftangriffen aufs Land evakuiert werden mussten und die auseinandergerissenen bittere, schmerzhafte, auch entwürdigende Erfahrungen machen mussten.  Sie hat ihre Mutter erlebt, welche Schwierigkeiten die in dieser Notsituation während und nach dem Krieg hatte.  Eine zurückhaltende, bescheidene Frau, die weder Ellbogen noch Geschicklichkeit wie andere hatte , um irgendetwas zu ergattern.  Meine Mutter sagte immer, wenn so etwas wieder käme, ginge sie in dieser Gesellschafter unter, sie sei für viele zu „exzentrisch“, weil eigensinnig und kritisch.  Ihre widerständige Haltung ist in der Tat mit dem Alter noch sturer und kompromissloser geworden, und das nicht nur in ihren Bürgerbewegungen. Aya erzählt mir, Mutter würde sich manchmal wie ein uneinsichtiges Kind verhalten, verängstigt und verharrt in ihrer Sicht, und wahrscheinlich hat Aya recht zu sagen, dass die Mutter, dadurch, dass sie jetzt mit Aya zusammen ist, in dieser Ausnahmesituation so einigermaßen ihr seelisches Gleichgewicht hält.  Ich bin unendlich dankbar, dass sie zusammen sind, wenn schon ich nicht in ihrer Nähe sein kann.  Meine Flehen, sie sollen so bald wie möglich zu mir nach Deutschland kommen, ist nichts anderes als Hilflosigkeit, ich möchte mein Gewissen und mein bedrücktes Herz erleichtern.  Verzweifelt sage ich dann alles mögliche: ihr sollt dieses hoffnungslos verdorbene Land aufgeben, es lohne sich nicht, euch mit diesen Unverbesserlichen zu solidarisieren, es nutze nichts, wenn ihr, von der Gefahr Bescheid wissend, weiter euer Leben aufs Spiel setzt, wenn ihr euch selber nicht rettet, rettet euch doch niemand,  Japan erwartet jetzt nur noch der Untergang!
Der Freund von Aya hat eine Softwarefirma in Tokio, hat mehrere Angestellte, verantwortlich für noch laufende große Aufträge, die fertig programmiert und geliefert werden müssen, außerdem hat er noch große Schulden.  Er sagt, am liebsten wolle er mit Aya und Mutter zu dritt zu mir kommen, aber er habe doch Verantwortung den Angestellten gegenüber, die müssen zuerst irgendwo unterkommen, alle Arbeit laufe schließlich unter seinem Namen, er könne als Chef nicht einfach so als erster abhauen.  Außerdem hat er selber mit seiner ehemaligen Frau Kinder im Norden, und seine jüngere taube Schwester, die mit ihrem ebenfalls tauben Mann südlich von Tokio mit zwei Kindern lebt, muss er auch versorgen.  Aya ist von ängstlicher Natur.  Ich kann mir gut vorstellen, dass sie jetzt, auch verantworlich für die alte Mutter psychisch angespannt, ungern von Tokio, von ihrem Freund, aus ihrem sozialen Netzwerk und vertrauten Terrain wegziehen würde.  Dann rückt sie auch noch heraus: ihr Pass sei längst abgelaufen.
Ayas Freund habe aber bereits mit einem seiner guten Freunden in Kyoto ausgemacht, dass sie alle drei im Notfall bei ihm Unterschlupf finden könnten.  Ich sagte gleich, es sei aber schon dieser Notfall, wenigstens sollen die Mutter und Aya heute noch Tokio verlassen, bevor die drohende Kernschmerze kommt.  Im Ballungsraum Tokio leben ja über vierzig Millionen Menschen, wenn sie alle in Panik geraten und zu fliehen anfangen würden, hätte meine Mutter dann keine Chance.   Als ich mit all meiner Kraft noch ein mal versuchte, sie zu überreden, ist es in Japan Mitternacht vorbei, und ich muss sie wohl schlafen lassen.  Ich sitze am Schreibtisch, vor mir den PC-Monitor, wodurch ich ich mit meiner Schwester und ihrem Freund chatte, und heule.  Es ist ein Alptraum.  Aya weiß, obwohl sie mich nicht sehen und hören kann, dass ich weine und versucht mich zu trösten:  Yu, es ist ja nicht so, dass wir deswegen gleich morgen sterben!  Es ist schön, dich in Deutschland an uns denkend zu wissen, wir sind doch im Herzen immer zusammen, wir sind doch Familie....  Warum muss sie mich jetzt trösten, während ich nur noch zusehe, dass eine große Gefahr auf meine Familie zukommt?  In Tränen bitte ich sie dann noch mal mit Nachdruck: Mindestens das Nötigste in einen Koffer packen und sich auf die Flucht vorbereiten.

Mi. 16.03.2011
Dass Chatten so ein dankbares Mittel ist, habe ich zum ersten Mal festgestellt.  Zuerst haben wir miteinander telefoniert, aber wir haben scheinbar beide, Aya und ich, nahe am Wasser gebaut wie unsere Mutter.  Mit Chatten geht es leichter, zumindest müssen wir keine Tränen zeigen und die weinerliche Stimme nicht hören lassen.   Mit meiner Mutter, mit der ich an sich ein sehr gutes Verhältnis habe, vermeide ich jetzt zu telefonieren, was soll ich ihr in dieser Situation sagen, banale, nichts sagende Worte will ich ihr jetzt ganz bestimmt nicht sagen.  Aya versichert, Mutter wisse es auch, und ihr gehe es ja schließlich genauso.
Noriko, eine befreundete Japanerin in meiner Stadt, mit der ich nächste Woche ein Benefizkonzert organisiere, fragt mich am Telefon entsetzt, warum die Japaner so schlecht informiert seien, was für eine Informationspolitik!  Sie klagt, wenn sie sich aufregt und ihre Schwester anfleht, die nicht so weit von Fukushima wohnt, so schnell wie möglich mit ihrem noch kleinen Kind wegzuziehen, werde sie quasi für verrückt gehalten, die nur unnötig belästigen und in die Irre führen würde, wo sie doch wegen den Schäden vom Erdbeben genug zu tun hätte. Was Noriko sagt, finde bei ihr kein Gehör.  Ich gebe ihr dann verschiedene Links, die mir meine Schwester gegeben hat, auf denen man auf Japanisch unverschleierte Berichte und Gefahrwarnungen lesen kann.  
Meine Mutter erzählt, dass sie heute mit Aya einkaufen war und nicht etwa bei dem großen Supermarkt um die Ecke, der fast leer ist, sondern in kleineren Läden nah am Bahnhof, wo sich noch verschiedene Kleinigkeiten.  Jetzt habe sie erst mal genug Vorrat.   Der angekündigte Stromausfall sei bei ihr nicht eingetroffen, obwohl sie Kerzen, Taschenlampe und Radio bereitgehalten habe, ihr Viertel liege scheinbar an der Grenze von aufgeteilten Regionen und sei zufällig vom Stromausfall ausgenommen gewesen.
Sogar hier in weit entfernten Deutschland hat man angefangen, den Ausstieg aus dem Atomausstieg in Frage zu stellen, aber in Japan gibt es mitten in dieser Katastrophe nicht mal eine Diskussion auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene über die laufenden AKWs.  Es gibt noch zahlreiche AKWs auf unserer wackligen Insel.  Die AKWs in Hamaoka an der Bucht von Suruga etwa sollten auf jeden Fall ausgeschaltet werden.
TEPCO ließ Tage verstreichen, bis sie endlich damit anfing, das allerwichtigste Stromkabel in beschädigten Anlagen zu verlegen, obwohl das eigentliche Problem darin lag, dass es nach dem Tsunami keinen Strom mehr gab, um das Kühlsystem zu reaktivieren.  Statt dessen spritzt man täglich Meerwasser, das wahrscheinlich gleich bei der großen Hitze abdampft und agressives Salz in komplexen Anlagen hinterläßt.  TEPCO, der Betreiber, weiß wahrscheinlich nicht Bescheid, wie alles gebaut ist und wie alles funktioniert, daher müssten sie doch zuerst die Techniker von Hitachi und Toshiba holen, die diese Stromkabeln früher verlegt haben.  Aber das ist ja wieder das unglaublich unbewegliche System Japans, das in dem Notfall auch seine Reihenfolge zu respektieren hat mit jeweiligen Zuständigkeiten: Zuerst Politiker, die noch weniger Ahnung haben, dann die Polizei, die Feherwehr, und dann die Privatunternehmen.  Dabei ist doch schon so viel Radioaktivität entwichen, das AKW Nr. 3 hat sogar Plutonium, und das sind insgesamt 6 AKWs, denen jederzeit ein Meltdown droht.   Und die Regierung vergleicht die Strahlenwerte mit der Menge, die man bei einer Röntgenaufnahme abbekommt.  Wie kann es sein, dass man die lächerliche Lüge nicht gleich erkennt:  Bei der Röntgenaufnahme handelt es sich um eine einmalige Verstrahlung von Außen, während bei der akuten Atomkatastrophe wäre man nicht nur ständig und ununterbrochen den Strahlen ausgesetzt, sondern es kommen noch die durch in den Körper inhalierten und eingenommenen radioaktiven Partikel hinzu, die von Innen  den Leib verstrahlt.  Und das im Land, wo einst die ersten Atombomben fielen und es immer noch Menschen gibt, die unter den Folgeschäden leiden.  In der sogenannten Pressekonferenz der Regierung und von Tepco gibt es auch keine wirklichen kritisch fragenden Journalisten, die nach mehr detaillierten und basierten Informationen verlangen.  Bei diesen Kindern, die in der Schulbildung nur noch Multiple-Choice-Aufgaben gelöst haben, ist die Fähigkeit zur Fragestellung völlig unterentwickelt.  Sie haben ja nur die Sensibilität, die erwarteten Antworten richtig zu treffen, was eben nicht reicht, um zu denken, zu analysieren.  Und in dieser großen Gefahr merken die meisten Japaner nicht, dass sie nicht nur vom eigenen Staat für dumm verkauft werden, sondern auch durch die Verharmlosung der Gefahr und durch ein Unterlassen von notwendigen Maßnahmen, um die atomaren Schäden und Risikos so weit wie mögich zu minimieren, und dadurch noch weiter in den Abgrund getrieben werden.  Gadaffi wird jetzt von Amerikanern und von der EU verurteilt, dass er auf die eigene Bevölkerung schieße und sein Land und Volk ruiniert, aber die Welt schaut zu, wie eine Handvoll unverantwortliche Menschen in Japan das eigene Volk ins radioaktive Elend treibt.  Wir haben ja sowieso gänzlich versäumt, uns mit den Kriegsverbrechen und den eigenen Schulden gründlich auseinanderzusetzen, dies zu bearbeiten und zu bewältigen, sie stellen sich viel lieber als Opfer der ersten Atombomben dar, und vergessen, dass sie selber Täter von unsagbaren Verbrechen waren, nicht mal der Kaiser, für dessen Namen so viele Menschen den elenden Tod sterben mussten, gab seine eigene Schuld zu und blieb unversehrt als das „Symbol’“ des Landes.  Wir haben keinen Diktator, der alleine der „Böse“ wäre, dafür endlos viele Kinder ohne klare Verantwortungsträger.  Selber schuld, dass es so kommen musste und dass alle verstrahlt werden müssen?

Do. 17.03.2011
Aya ruft mich an, um mir zu erzählen, was sie mit Mutter und ihrem Freund entschieden hat: dass sie erstmal in Tokio bleiben.  Dabei sagt sie immer wieder, um mich und vielleicht sich selbst zu beruhigen, dass sie bleiben, nicht weil sie resigniert wären, sie würden alles versuchen, um sich so weit wie möglich zu schützen und zu überleben, notfalls, also wenn tatsächlich ein Meltdown passieren sollte, würden sie nach Kyoto fliehen.  Sie sagt, Tokio sei nicht Tschernobyl, sondern Kiev, und zum Glück habe sie keine Kinder, denn wenn sie Kinder gehabt hätte, wäre sie längst weggegangen.  Ihr Freund könne vorläufig gar nicht von Tokio weg.  Mutter sei seltsam auf das schlimmste gefasst und behaupte, sie sei ja schon so alt und müsse sich nicht mehr sträuben, um etwas länger zu leben, viel lieber würde sie in ihrer Umgebung bleiben und ihr Leben in der eigenen Wohnung weiterführen, ohne sich einzuschränken bei Fremden.
Aya erzählt von der Kluft zwischen dem, was sie aus den Schreckensmeldungen als Schlussfolgerung ziehen müsse, und der Gelassenheit, nein, eher der Sorglosigkeit und der Unbekümmertheit der Bewohner Tokios, die wieder in den „normalen“ Alltag zurückgekehrt seien.  Kan vergleicht die Lage mit der Nachkriegszeit und sagt zuversichtlich, dass es Japanern wieder gelingen würde, die größte Krise gemeinsam zu überwinden und das Land wieder aufzubauen.  Die Medien unterstreichen diesen Kurs, in dem sie über das Heldentum der fünfzig Arbeitern an der hochradioaktiven Anlage und rührende Geschichte von geretteten Opfern berichten, während die Betroffenen aus dem Umkreis von dreißig Kilometern ohne Strom und Heizung, mit wenig Trinkwasser, Essen und Medikamenten in Stich gelassen werden.   Ein Paar Fotojournalisten, die öfter in Tschernobyl waren und jetzt in die Nähe von Fukushima in eine noch nicht evakuierte Zone gefahren sind, berichten, dass alle ihrer Geigerzähler bis zum Anschlag nach rechts ausgeschlagen hätten.
Für viele Japaner bin ich sowieso jemand, der das eigene Land verraten hat, denn ich habe mich vor Jahren hier in Deutschland eingebürgert, so hätte ich nach ihrer Meinung kein Recht, Japan und Japaner zu kritisieren.  Es tut mir ja auch weh, meine Heimat so kritisch sehen zu müssen, denn, wie gesagt, ich mache mit mir selbst keine Ausnahme.  Zwar habe ich einen durchaus kritischen Blick und einen vergleichbar analysierenden Kopf entwickelt und mich jahrelang mit mir selbst, mit diesem in Japan aufgewachsenen, Japanisch als Muttersprache sprechenden, mit japanischen Werten erzogenen, durch und durch „japanischen“ Selbst auseinandergesetzt, daher bin ich vielleicht nicht mehr dieselbe, die vor über zwanzig Jahren Japan verließ, aber keineswegs bin ich von den Wurzeln abgeschnitten.  Japan ist und bleibt meine Heimat, Japan begleitet mich wie Schatten.  Ich möchte so gern meine Familie aus dem von Menschen verursachten Desaster retten, ich möchte sie wiedersehen und umarmen, ich möchte wieder meine Heimat besuchen.  In dieser hoffnungslosen Situation kann ich nichts anderes tun in Tränen, zu hoffen, dass es doch nicht so schlimm kommen möge.  Das ist dann fast ein Glaubensbekenntnis.

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